

Im Innern des Bernsteins
Warum brauchen wir eigentlich
Kirchenmusik in Lübeck? Es gibt
doch gute CDs. Warum brauchen
wir vier Musiker, reichen nicht
zwei? Muss man je in der Sixtini-
schen Kapelle den Kopf in den
Nacken gelegt haben, um sie zu
begreifen? Brauchen wir die Sixti-
nische Kapelle noch? Lassen wir
sie doch verfallen, es gibt Filme
und Abbildungen von ihr in großer
Zahl!
Es ist schon ein paar Jahre her,
dass ich in der Sixtinischen Kapel-
le stand. Und natürlich kannte ich
sie schon, bevor ich sie gesehen
hatte, eigentlich ging es mir nur
darum, diesen Ort als »besucht«
abzuhaken. Aber ich wusste nicht,
wie es dort riecht. Ich wusste nicht,
wie es ist, neben Hunderten von
Menschen zu stehen, die andächtig
eine Decke betrachten. Ich stand
staunend dort, ergriffen und be-
eindruckt. Eine Erfahrung, die für
den aufgeklärtenMenschen des
21. Jahrhunderts selten geworden
ist. Er kennt schon alles, hat schon
alles gesehen, die Reproduzierbar-
keit nicht nur des Kunstwerkes hat
Wissen, Erfahrung und Erkenntnis
zu einemmassenweise gehandel-
ten Gut gemacht. Der Mensch
sehnt sich nach demEchten, nach
der einzigartigen Erfahrung. Unter
vielenWegen, die zu dieser Erfah-
rung führen können, nimmt Kir-
chenmusik eine Sonderstellung
ein. Warum ausgerechnet Kirchen-
musik?
Kirchenmusik ist Musik, die ganz
anders funktioniert als andere
Musik. Zum einen ist sie an den
Kirchenraum gebunden. Nur in
diesemKontext entfaltet sie ihre
ganze Kraft und Größe. Diese Mu-
sik wurde für Räume geschrieben,
in denen sich die Decken erst
30Meter über den Köpfen schlie-
ßen, in denen das Licht durch viele
Meter hohe Kirchenfenster fällt.
Zum anderen soll Kirchenmusik
nicht ablenken, sondern hinfüh-
ren, zu sich selbst, zumGlauben.
Sie fordert Konzentration – von
denen, die sie hören, und von de-
nen, die sie spielen. Man braucht
Übung dazu, Zuhörer und Inter-
preten gleichermaßen. Es reicht
nicht, das Gewesene zu konservie-
ren – sonst würde Kirchenmusik
sich in nichts mehr von einem in
Bernstein eingeschlossenen Insekt
unterscheiden: hübsch anzusehen,
aber eben leblos. Damit Kirchen-
musik lebendig bleibt, muss sie ge-
spielt werden, gelebt werden. Die-
se lebendige Kultur gibt es nicht
umsonst. Musiker müssen bezahlt,
Instrumente gepflegt und erhalten
werden. Die Organisation von
Konzerten kostet Geld. Geld, das
immer spärlicher fließt, die sin-
kenden Einnahmen aus der Kir-
chensteuer spielen hier eine ent-
scheidende Rolle.
»4 Viertel – Stiftung Kirchenmusik
der vier Lübecker Innenstadtkir-
chengemeinden« wurde gegründet,
um die vielfältigen finanziellen
Anforderungen auch in Zukunft
bedienen zu können. Die Stiftung
soll Mittel vonMenschen und Ins-
titutionen einwerben, die den
Wert anspruchsvoller Kirchenmu-
sik zu schätzen wissen und sie als
Teil unserer Kultur würdigen.
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4 VIERTEL – STIFTUNG KIRCHENMUSIK DER VIER LÜBECKER INNENSTADTKIRCHENGEMEINDEN